Kultur Ensemble Ramallah

Gegründet: ein seltenes soziales Juwel

Juni 8, 2022

Frei zugängliche öffentliche Orte, die jede*r spontan aufsuchen kann, sind in Palästina leider immer noch selten. Umso bedeutender ist daher die jüngste Eröffnung eines neuen Dritten Ortes in Ramallah. Das „Kultur Ensemble“ beherbergt eine Bibliothek, ein Kulturcafé, einen Makerspace und eine Bühne. Dieses Deutsch-Französische Kulturinstitut empfängt seine Besucher*innen mit einem reichhaltigen Kulturprogramm, das von Sprachkursen bis hin zu Theater reicht.

Das Deutsch-Französische Kulturzentrum in Ramallah ist ein Zusammenschluss des Goethe-Instituts Palästinensische Gebiete und des Institut français Jerusalem. Beide Institute teilen sich seit 2004 ein Gebäude in Ramallah. Neben dem Angebot von Deutsch- und Französischkursen für das Publikum präsentiert das Kulturzentrum gemeinsame Projekte aus einem breiten kulturellen Spektrum: Film, bildende Kunst, Musik, Theater und Tanz, Konferenzen, Architektur und Wissenschaft. Im Laufe der Zeit hat sich das Deutsch-Französische Kulturzentrum zu einem vollwertigen Dritten Ort entwickelt und ist offiziell in das Deutsch-Französische Kulturinstitut Ramallah übergegangen, mit einem neuen projektübergreifenden Markennamen: Kultur Ensemble.

Mona Kriegler, von 2017 bis 2021 Leiterin des Goethe-Instituts Palästinensische Gebiete,  erklärt: „Von der Schaffung eines Dritten Ortes in unserem Kulturzentrum in Ramallah erwarten wir die Entstehung einer vielfältigen und inklusiven kulturellen Dynamik. Wir wollen alle Menschen willkommen heißen, in einer Atmosphäre, die von der Verbundenheit zur lokalen Kultur sowie von einem Gefühl von Zugehörigkeit, Wärme und Sicherheit geprägt ist. Wir hoffen, dass wir mithilfe dieses neuen Konzepts deutsch-französischer Zusammenarbeit Grenzen abbauen, Schwellen senken und zu einem noch vertrauenswürdigeren Partner für die lokale Community werden können. Unser Ziel ist es, aktiv eine Politik der Wertschätzung und des Zuhörens zu praktizieren, indem wir alle einladen, uns bei der Programmgestaltung ihres 3rd4all, ihres inklusiven Dritten Ortes, zu helfen.“

Stärken einer soziokulturellen Rolle

Die geopolitischen Umstände und Schwierigkeiten Palästinas schränken die private Domäne der Bewohner stark ein. Kultureinrichtungen haben jedoch erste Versuche unternommen, dieses Problem in Angriff zu nehmen. Gemeinschaftsräume, wie der neue Dritte Ort in Ramallah, sind in palästinensischen Gebieten selten, aber sehr begehrt. Heute erfüllt das renovierte Institut seine soziokulturelle Rolle besser denn je. Die Innengestaltung regt die Besucher dazu an, das Zentrum und sein reichhaltiges Kulturprogramm zu erkunden, und fördert Interaktivität und Kommunikation. 

Das Design dieses Dritten Ortes ist eine Gemeinschaftsproduktion von includi (Konzept, Workshop, Design, künstlerische Leitung) und dem in Ramallah ansässigen Architekturbüro Saed Obaid Architectural & Interior Design (Finales Design & technische Umsetzung) in Zusammenarbeit mit der lokalen Agentur Topaz interiors (Möbel und Dekoration).

Wir wollen alle Menschen willkommen heißen, in einer Atmosphäre, die von der Verbundenheit zur lokalen Kultur sowie von einem Gefühl von Zugehörigkeit, Wärme und Sicherheit geprägt ist.

Mona Kriegler Mona Kriegler Leiterin des Goethe-Instituts Palästinensische Gebiete (2017 – 2021)

„Unser gemeinsames Ziel war es, einen einladenden, sicheren und inspirierenden öffentlichen Ort in Ramallah zu schaffen, an dem sich Menschen zu Hause fühlen können und der für multikulturelle Erfahrungen, Veranstaltungen und Begegnungen geeignet ist. Also einfach ein Ort, an dem man sinnvoll Zeit verbringen kann“, fasst Aat Vos, Creative Director bei includi, das erste includi-Projekt außerhalb des „globalen Nordens“ zusammen. 

Real-Life-Meetings und Remote-Sessions 

Der Startschuss fiel im Oktober 2019, als Mitglieder des includi-Teams erstmals Ramallah besuchten. Aat Vos erzählt: „Unser Team besuchte verschiedene palästinensische Kulturzentren sowie das Flüchtlingslager Qalandia, das bei uns allen einen tiefen und bleibenden Eindruck hinterlassen hat. Es hat uns gezeigt, wie die Menschen selbst unter schwierigsten Bedingungen ihre Kreativität zu nutzen wissen und wie sie aus den minimalen verfügbaren Flächen und Räumen des Camps das Maximum herausholen. Das war eine unheimlich inspirierende Erfahrung.“ Die Eindrücke wurden in einem Workshop mit dem deutsch-französischen Team aufgegriffen und kreativ verarbeitet. 

Weitere Elemente des Entwicklungsprozesses waren Nutzerstudien anhand von includi-Kartenspielen (in arabischer Übersetzung), die vom deutsch-französischen Team geleitet und mit Partnern, Student*innen, Schüler*innen sowie Deutsch- und Französischlernenden aller Altersklassen durchgeführt und von includi in den Niederlanden ausgewertet und dokumentiert wurden. Der für März 2020 geplante includi-Design-Workshop musste aufgrund der COVID-Pandemie einem viertägigen Remote-Workshop weichen. Diese Aktivitäten führten in der Konsequenz zur Präsentation eines brandneuen Konzepts für einen öffentlichen Dritten Ort in Ramallah, das geeignet ist, ungezwungene  Begegnungen zu ermöglichen und mehr zwischenmenschliche Interaktion in der lokalen Community anzuregen.

Ein kulturelles Kaleidoskop

Die neuen öffentlichen Bereiche des Kultur Ensemble befinden sich im Erdgeschoss sowie im 1. Stock des Gebäudes. Im Erdgeschoss befindet sich ein Café mit informeller und einladender Atmosphäre, aber auch ein Mehrzweck-Seminarraum, der durch gläserne Wände Einblick in Unterricht oder andere Formate erlaubt. Im 1. Stock finden die Besucher*innen die Bibliothek, einen Makerspace, eine Spielecke für Kinder sowie eine Bühne für niedrigschwellige lokale Kulturveranstaltungen wie Filmabende, Konzerte, Konferenzen u.ä. Außerdem sind hier ein Büro und “Cocoon”, in dem sich Interessierte über das Studium in Deutschland oder Frankreich informieren können. 

Das allgemeine Erscheinungsbild und die Atmosphäre der Räumlichkeiten sind durchgehend warm, einladend und erfrischend. Eine warme farbliche Basis empfängt die Besucher*innen mit gelben Wänden, einer braunen Decke für eine gemütlichere Atmosphäre sowie regionalen kulturellen Akzenten wie Beistelltischen mit bunten Fliesen, einer Tapete im „Cocoon“ mit typisch palästinensischen Motiven, handgehäkelten Elementen für die Barhocker im Café und einem großen Teppich in der Kinderecke aus lokaler Herstellung, um eine freundliche und vertraute Atmosphäre zu schaffen. Blaue Farbakzente sorgen zusätzlich für einen erfrischenden Touch. 

Zugänglichkeit ist Priorität

Hélène IJsselstijn, Innenarchitektin bei includi, erklärt: „Die Suche nach den richtigen Materialien, Stühlen und Polstermöbeln war eine Herausforderung. Wir hatten infolge der COVID-Pandemie mit langen Lieferzeiten und begrenzten Beständen zu kämpfen. Dank der intensiven Zusammenarbeit mit unseren lokalen Designpartnern Saed Obaid und Topaz – die mit großer Sorgfalt die perfekten Einrichtungselemente für uns selektiert haben – konnten wir diesem Projekt eine ansprechende, lokale Identität verleihen und die anvisierte barrierefreie, inklusive Atmosphäre Realität werden lassen. Auch der neue Eingangsbereich im Erdgeschoss ist einladender geworden, indem wir hinter der Fensterfront Platz für Menschen geschaffen, beleuchtete Arbeitsplätze eingerichtet und diverse Sitzgelegenheiten im Foyer und im Cafébereich etabliert haben. Ein großer Gemeinschaftstisch im Erdgeschoss lädt dazu ein, Platz zu nehmen, und gibt gleich beim Betreten den Ton an. Die beabsichtigte „Deinstitutionalisierung“ des Ortes wird auch in der Beschilderung sichtbar, zum Beispiel durch freche und humorvolle Schilder mit Aufschriften wie Bitte stören Sie uns.“

Dank der intensiven Zusammenarbeit mit unseren lokalen Designpartnern konnten wir diesem Projekt eine ansprechende, lokale Identität verleihen und die anvisierte barrierefreie, inklusive Atmosphäre Realität werden lassen.

Hélène IJsselstijn Hélène IJsselstijn Innenarchitektin bei includi

Kultur Ensemble ist ein vollwertiger Dritter Ort, der dank seines inklusiven Einrichtungskonzepts leicht zugänglich ist und hoffentlich von Menschen jeden Alters und jeder Herkunft als „zweites Zuhause“ empfunden wird. Ein Kulturhaus, verankert in einem sich entwickelnden lokalen Kontext, in dem man – neben all dem, was es dort zu lernen und zu erleben gibt – einfach gerne Zeit verbringt, ob allein oder mit anderen. 

Projektinformationen

Auftraggeber: Goethe-Institut Palästinensische Gebiete
includi: Konzept, Workshop, Design, Art Direction (Team: Aat Vos, Hélène IJsselstijn, Eunice Ma, Jasper Poortvliet, Pepijn Vos)
Saed Obaid Architectural & Interior Design: Finales Design und technische Umsetzung
DeMore by Design & More: Generalbauunternehmer
Topaz interiors: Möbel und Dekoration
Fotografie: Marco Heyda/includi